Fakten

Die Landlosenbewegung in Brasilien

Was ist die Landlosenbewegung? Wie ist sie entstanden? Was ist das Ziel der Bewegung?

Die Landlosenbewegung ist eine 1984 gegründete soziale Bewegung Brasiliens, die für eine Bodenreform und ein agrarökologisches Landwirtschaftsmodell kämpft. Obwohl die Bewegung erst im April 1984 formal gegründet wurde, ist sie das Resultat vorheriger Kämpfe bäuerlicher Organisationen Brasiliens. Viele dieser Organisationen existieren schon seit der brasilianischen Diktatur, welche 1964 begann.

Die Ziele der Bewegung sind die Demokratisierung des Bodens durch eine Bodenreform, der Ausbau eines agrarökologischen Landwirtschaftsmodell und ein Strukturwandeln hin zu einer solidarischen und gerechten Gesellschaft.

Wie sieht die Landverteilung in Brasilien aus? Wer besitzt das Land und wer profitiert am meisten an dem Anbau von Exportprodukten?

Die Landfrage in Brasilien ist eine historische Frage und ein strukturelles Problem. Auch heute noch bestehen Strukturen, die noch aus der Kolonialzeit stammen. Dies gilt besonders für die Verteilung von Land: So sind 45 % des Ackerlandes im Besitz von nur 1% der ländlichen Eigentümer, stellte Oxfam 2019 fest. Brasilien ist ein Land voller Großgrundbesitz, was nicht nur ein Problem für die Landwirtschaft und die Umwelt ist, sondern auch eine Rolle in der Verteilung politischer Macht spielt.

Da wir bisher keine richtige Bodenreform hatten, sind viele der heutigen Besitzer des Landes stark mit dieser kolonialen Vergangenheit verbunden. Seit der Kolonialzeit über die Kaiserzeit bis hin zur Republik fand keine gerechte und demokratische Reformierung des Bodens statt. Zwar wurde 1850 das Bodengesetz (Lei de Terras) verabschiedet, jedoch legitimierte dieses nur die damalige Verteilung des Landes. Die heutigen Besitzverhältnisse sind Ergebnis dieser historischen Prozesse. Auch Landgrabbing spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle.

Was sind die aktuellen Herausforderungen für die Landlosenbewegung?

Die größte Herausforderung ist die Politik unter dem jetzigen Präsidenten Jair Bolsonaro. Das Ziel der Landlosenbwegung ist die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit. Um die Gesellschaft langfristig zu verändern, arbeitet die Landlosenbewegung mit anderen Akteur:innen zusammen und ist Teil von Bündnissen wie der “Frente Brasil Popular”. Wir verteidigen zusammen die brasilianische Demokratie und fordern Gerechtigkeit ein.

Eine weitere Herausforderung ist, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass eine Bodenreform und eine stärkere Sozialpolitik nötig sind. Die Gesellschaft muss ein Bewusstsein für eine nachhaltige Klimapolitik und eine gerechte Agrarpolitik bekommen. Leider wurde die Landlosenbewegung in den letzten Jahrzehnten von den traditionellen Medien, welche in Brasilien eng mit dem Agrobusiness verknüpft sind, sehr schlecht dargestellt.

Was hat Agrarökologie mit der Landlosenbewegung zu tun?

Agrarökologie ist heute einer der wichtigsten Schwerpunkte der Bewegung. Seit Jahren fordert die Landlosenbewegung eine Veränderung in der Agrarpolitik, welche die Bodenreform begleiten muss. Es reicht nicht, einfach das Land neu zu verteilen. Wir brauchen auch eine langfristige Finanzierung einer nachhaltigen Landwirtschaft, die die Umwelt berücksichtigt und welche Konsument:innen und Produzent:innnen versorgt.

In vielen Regionen Brasiliens verstärkt die Bewegung agrarökologische Initiativen, was schon ein großer Gewinn ist: Aber natürlich hängt eine strukturelle Veränderung von politischen Entscheidungen ab.

Wie hat sich die Situation der Landlosenbewegung in Brasilien unter Bolsonaro verändert?

Unter Bolsonaro hat sich die Situation für die Landlosenbewegung und für viele andere soziale Bewegungen verändert. Das gilt für Studierendenbewegungen, Frauenbewegungen, Obdachlosenbewegungen usw. Bolsonaros Regierung ist nicht nur sehr konservativ und neoliberal, sondern auch sehr autoritär und deutlich gegen soziale Bewegungen. Für die Landlosenbewegung spielte das natürlich eine große Rolle: Die Sozialpolitik des Landes wurde auf viele Arten und Weisen geschwächt, was auch Auswirkungen auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft hat. Die Regierung steht in sehr enger Beziehung zu den Großgrundbesitzer:innen, die heute einer der wichtigsten Unterstützungsgruppen der aktuellen Regierung sind und deutliche von der Regierung profitieren.

Laut einer Recherche der Comissão Pastoral da Terra (CPT) erhöhte sich die Gewalt im ländlichen Raum um 30% in nur einem Jahr (von 2020 auf 2021). Das spiegelt die Gewaltbereitschaft der Bolsonaro-Regierung gegenüber sozialen Bewegungen und Linksparteien wieder, die der Präsident auch immer wieder in öffentlichen Reden ausdückt.

Wie wichtig ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft für die Ernährung der lokalen Bevölkerung?

Die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist notwendig für die Ernährung in Brasilien. Laut dem Bericht vom IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Pesquisa) aus dem Jahr 2017 erzeugt die kleinbäuerliche Landwirtschaft 70% der Lebensmittel, die die brasilianische Bevölkerung konsumiert. Das heißt, der größte Teil des Essens auf dem Tisch brasilianischer Familien kommt von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, obwohl das Agrobusiness viel mehr Unterstützung durch die Regierung bekommt.

Was hat der Anbau von Soja und die Rinderzucht mit der Landlosenbewegung zu tun?

Nicht nur Soja und Rinderzucht, sondern auch Monokulturen allgemein sind für die Landlosenbewegung ein Hindernis; in vielerlei Hinsicht. Soja und Rinderzucht sind eng mit dem Großgrundbesitz verbunden und das hat natürlich nicht nur eine sehr schlechte Auswirkung auf die Umwelt, sondern wirkt sich auch politisch aus. Die Großgrundbesitzer:innen haben viel Einfluss und Geld, um durch Lobbyarbeit eine Bodenreform und nachhaltigere Landwirtschaftsprojekte zu verhindern. Die Bodenreform ist deshalb so wichtig, damit einerseits nicht nur eine kleine Minderheit profitiert, und andererseits, damit die Abhängigkeit von Monokulturen überwunden werden kann.

Wichtig ist auch zu erwähnen, dass die Sojabohne an sich nicht das Problem ist. Auch Initiativen der Landlosenbewegung fingen in den letzten Jahren an, selbst Soja mit nachhaltigen Methoden anzubauen. Problematisch sind allerdings der Commodity-Betrieb, von dem nur der Großgrundbesitz profitiert.

Gab es in den letzten Jahren mehr Waldbrände? Welche Auswirkungen haben diese auf die Landlosenbewegung?

Ja. Laut einer Recherche des Instituto do Homem e Meio Ambiente da Amazônia (Imazon), erhöhte sich die Entwaldung in Brasilien 2021 um 29% im Vergleich zu den vorherigen Jahren. Über 10.000 Kilometer Urwald wurden letztes Jahr zerstört. Internationale NGOs, wie Greenpeace, berichten von der Entwaldung und von illegaler Brandstiftung, um Ackerland zu vergrößern.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Landlosenbewegung?

Die Pandemie ist eine große Herausforderung für die Landlosenbewegung. Das liegt unter anderen daran, dass soziale Bewegungen in Brasilien ab 2019 sehr wichtige Straßenkämpfe gegen die Regierung führten. Durch die Pandemie musste der Widerstand neu organisiert werden und es mussten andere Wege gefunden werden, um weiterzukämpfen. Die Pandemie zeigt aber auch, wie solidarisch die Landlosenbewegung ist: Seit Anfang der Pandemie spendete die Bewegung 6.000 Tonnen Lebensmittel an Familien in unterschiedlichen Regionen Brasiliens. Das hat eine große Bedeutung, da der Hunger in Brasilien unter Bolsonaro größer geworden ist.

In welcher Verantwortung siehst du die EU und einzelne Mitgliedsstaaten wie Deutschland?

Die europäische Union sollte sich auch verantwortlich für die Entwicklung des globalen Südens fühlen. Brasilien war eine Kolonie, wie viele andere Länder Lateinamerikas. Die heutige Entwicklung und der Lebensstil Europas wurden großenteils ermöglicht, weil es ein Kolonialsystem gab, das Ungleichheiten in Lateinamerika formiert hat. Diese Ungleichheiten verfolgen uns bis heute. Europa sollte sich fragen, wie die internationale Entwicklung und Arbeitsverteilung gerechter werden kann. Das ist schwierig, weil es einen Interessenkonflikt zwischen dem globalen Norden und Süden gibt und weil wir in einem kapitalistischen System leben. Ein guter Anfang ist es, bei Konferenzen und anderen Veranstaltungen lateinamerikanische soziale Bewegungen, wie die Landlosenbewegung oder die indigene Bevölkerung, miteinzubeziehen und ihnen zuzuhören.

Wie siehst du die Zukunft der Landlosenbewegung in Brasilien?

Eine der besten Eigenschaften der Landlosenbewegung ist die Fähigkeit, sich immer wieder zu erneuern. Wenn die brasilianische Linke und progressive Kräfte im Land es schaffen, die Strukturen der Gesellschaft und des Staates zu ändern, wird die Landlosenbewegung mit zu einer besseren Zukunft beitragen. Diese Zukunft hängt aber auch von den kommenden Wahlen im Oktober 2022 ab.

Brasilien braucht eine Regierung, welche die Landlosen- und andere soziale Bewegungen miteinbezieht, damit die Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft gehört werden und nicht nur die der Eliten. Mit einer progressiven Regierung können wir mithilfe der Landlosenbewegung den Weg einer nachhaltigen Entwicklung gehen.

Durch die Aktionen und die Solidaritätskampagnen während der Pandemie hat die Bewegung eindeutig bewiesen, wie wichtig eine solche solidarische Organisation für Brasilien ist. Die Landlosenbewegung bietet viele Möglichkeiten, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern.

1

Regionale Wertschöpfungsketten

Wir brauchen stärkere Stadt-Land-Verbindungen und ausgebaute regionale Vermarktungskonzepte sowie mehr regionale Verarbeitungs- und Veredlungsmöglichkeiten.

2

Faire Handelsbeziehungen

Wir müssen uns auf europäischer Ebene für gerechte Handelsbeziehungen einsetzen. Auch in unserer Region können wir z. B. durch landwirtschaftliche Partnerschaftsprojekte in den Austausch mit Menschen im Globalen Süden treten und regionale Lösungen vor Ort finden.

3

Transparente Lieferketten

Die gesamte Wertschöpfungskette nachzuvollziehen ist schwierig. Oft kennen die Produzent:innen und Händler:innen nur das nächste Glied in der Kette und haben keinen Einfluss darauf, wo das Produkt am Ende landet. Statistisch ist nicht nachzuvollziehen, wo ein Produkt endkonsumiert wird und welche Produktionsschritte es wo vorher durchlaufen ist.